Als der Adventskranz entstand

Es war einfach furchtbar dunkel. Harry lag in seinem Bett und dachte an die vergangenen Tage, Monate und Jahre. Furchtbar dunkel war es nicht nur dort unter der Treppe, wo er früher seinen Schlafplatz gefunden hatte, sondern in seinem ganzen Leben. Zuerst war der Vater in der Fabrik verunglückt. Ein schwerer Balken ist auf ihn gefallen. Gestorben ist er dann zuhause, Mutter hatte versucht, noch etwas Geld für einen Arzt aufzutreiben. Aber der hatte gesagt, dass er nichts mehr für ihn tun könne. Seine Schwester Marie und er waren da noch ganz klein, aber Harry kann sich noch ganz genau erinnern, wie sie an Vaters Bett saßen. Dunkel war das, die einzige Kerze wurde angezündet, als er dann tot war.

Harry dachte damals, dass es nicht dunkler werden könne. Er dreht sich in seinem eigenen frisch gemachten Bett und dann kommen ihm bei der Erinnerung die Tränen. Mutter hatte die kleine Marie mit ihren 5 Jahren bei einer wohlhabenden Familie abgeben. Dort musste sie die Böden schrubben und Wäsche waschen. Aber sie hatte täglich immerhin etwas zu essen. Für ihn, Harry konnte Mutter nichts tun, als sie das Zimmer verlassen mussten, in dem Vater gestorben war, wo sie geweint, gegessen und geschlafen hatten. Da gab ihm Mutter einen Kuss auf die Stirn und sagte: „Jetzt musst du es alleine schaffen.“ Harry war da gerade mal 7 Jahre alt. Seine Mutter hat er seither nie mehr gesehen.

Im Keller eines großen Hauses hatte er dann sein Versteck gefunden. Unter der Treppe, da war eine dunkle Nische und es gab ein paar leere Kartoffelsäcke zum zudecken. Da würde ihn keiner finden, dachte Harry. Aber er hatte sich getäuscht. Plötzlich war Fritz da, ein anderer Junge, vielleicht zwei Jahre älter als er. Der wollte ihn erst vertreiben: „Das ist mein Schlafplatz, du hast hier nichts zu suchen, scher dich weg.“ Aber vermutlich hatte Fritz dann doch Mitleid mit ihm und sie quetschten sich beide unter den engen Platz unter der Treppe im dunklen Keller.

Fritz hatte ihn dann mitgenommen. In die Hamburger Innenstadt, an den Hafen, an die Plätze, wo viel los war. Fritz traf sich mit zwei anderen Jungs. Er, Harry, sollte einfach erstmal nur zusehen. Es war eigentlich recht einfach. Wenn die drei Jungs gesehen hatten, wo jemand sein Geld hatte, dann verfolgten sie den eine Weile, warteten auf eine gute Gelegenheit. Zwei lenkten den dann ab, manchmal täuschten sie eine Schlägerei vor rempelten ihn an oder ließen etwas fallen. Der andere zupfte dann den Geldbeutel aus der Manteltasche. Und dann hieß es rennen!

Manchmal hatten sie Glück und hatten genug zu essen für ein paar Wochen. Manchmal hatten sie Pech, wurden erwischt und übel geschlagen. So ging es über Jahre. Und auch, wenn sie manchmal Glück hatten: Hunger und Angst, das war das, was Harry am allermeisten spürte. Dunkel war diese Zeit, richtig finster.

Dann dieser Tag vor ein paar Wochen. Fritz und Harry beobachteten, wie eine andere Bande von Jungs den Geldbeutel von einem reichen Mann stehlen konnten. Fritz meinte dann bloß; „komm, den holen wir uns“. Und tatsächlich, sie konnten den Beutel den anderen Jungs abluchsen. Rannten vor denen dann davon, wurden in einer Sackgasse eingezingelt. Harry sah sie noch die Messer ziehen und wie sie Fritz packten. Er hörte ihn noch schreien, aber Harry rannte um sein Leben.

Harry macht sich Vorwürfe, wie konnte er Fritz nur im Stich lassen. In ihrem dunklen Versteck unter der Treppe ist er nicht mehr aufgetaucht. Nicht die erste Nacht, nicht die zweite und auch nicht die dritte. Harry machte sich auf die Suche. Nichts war herauszukriegen, niemand wusste etwas.

Dann kam dieser Sonntag. Er traf auf eine Gruppe anderer Kinder. Arm wie er. Die meinten, er solle doch mitkommen, ob er nicht genauso Hunger hätte wie sie. Harry lief einfach mit. Vor der Kirche gab es eine warme Suppe. Während des gesamten Gottesdienstes starrte Harry dann den Gekreuzigten hinter dem Altar an. Ob Fritz auch so viel bluten musste?

Danach nahmen ihn die anderen Kinder mit in ein Haus. Dort gab es Tee und die Kinder sollten aus der Bibel lesen. Wo gab es denn soetwas?  Diese Kinder, so arm und so dreckig wie er lernten lesen!

Harry weiß nicht wieso er dort blieb. Und er weiß auch nicht, warum sich dieser Pfarrer Johann Hinrich Wichern hieß er, zu ihm gesetzt hat. Vielleicht, weil Harry so traurig aussah? Warum auch immer, er erzählte diesem fremden Menschen seine ganze Geschichte. Das hatte Harry noch nie getan. Und es tat gut. Der Pfarrer sagte nichts, und belehrte ihn auch nicht, als er ihm von den Diebstählen erzählte.

Und dann erzählte dieser Pfarrer: Er hätte bei reichen Hamburger Bürgern viel Geld erbettelt und ein großes Bauernhaus für Kinder wie ihn. Und so war Harry mitgegangen. Hatte ein eigenes Bett bekommen mit einer Matratze aus Stroh und einer richtigen Decke aus Wolle.

Da lag er jetzt und konnte doch nicht einschlafen. Immer noch hatte er große Schuldgefühle und Sorgen wegen Fritz. Wo war der bloß?

Am nächsten Abend, Harry hat dann scheinbar den ganzen Tag geschlafen, sitzt ein anderer Junge neben ihm und schaut ihm beim aufwachen zu und sagt: „Komm mit, es gibt die Abendandacht“. Wie im Traum erscheint ihm das neue Zuhause. Er kann es kaum glauben. Hier soll er jetzt mit anderen Kindern leben können. Solche Jungs von der Straße wie er. Sie sollen sogar einen Beruf lernen. So hatte es ihm Pfarrer Wichern gestern versprochen.

Und dann findet sich Harry im großen Wohnzimmer wieder. Ein großes Wagenrad hängt da von der Decke. Viele Kerzen sind drauf und Grünzeugs.

Die anderen Jungs und Mädchen stehen andächtig da. Sie wissen scheinbar worum es geht. Sind ja schon länger da. Also stellt sich Harry auch so hin. Und versucht zuzuhören. Der Pfarrer erzählt etwas von Hoffnung und wie wichtig die ist im Leben. Hoffnung auf eine gute Zukunft, das kennt Harry nicht. Aber jetzt will er daran glauben. Hoffnung ist grün sagt der Pfarrer. Grün wie die Tannenzweige.

Und er sagt etwas von der Dunkelheit. Und da macht Harry die Ohren weit auf. Das kennt er. Das kennen alle hier sagt der Pfarrer. Sogar er selber, er war auch einmal ganz arm als Kind. Aber Gott bringt mit seinem Kind Licht in die Welt. Jeden Tag ein bisschen mehr. Mit ihm wird es hell und für euch soll es auch hell werden.

Jeden Tag ein bisschen mehr, bis Weihnachten. Jeden Tag eine neue rote Kerze, am Sonntag eine große weiße.

Und auf einmal sieht Harry alle Kerzen brennen. Ganz hell wird es im Raum. Harry sieht die Kerzen spiegeln in den Fensterscheiben. Und da, kann das sein? Da hinter der Fensterscheibe, ist das Fritz? Ja ganz sicher, er lacht ja und auf einmal wird es ganz warm in Harrys Herz.

Johann Hinrich Wichern 1808-1881
Pfr. J. H. Wichern gilt als der Erfinder des Adventskranzes. In seinem "Rauhen Haus" in Hamburg gab er armen und verwahrlosten Kindern ein Zuhause und durch eine Ausbildug auch Hoffnung und Zukunft. Er gilt als der Erfinder des Adventskranzes.